Israels Armeechef hat mit Beginn der Mobilisierung Zehntausender Reservisten für die geplante Einnahme der Stadt Gaza angekündigt, die Kampfeinsätze auszuweiten. «Wir haben die Bodenoperation in Gaza bereits begonnen», sagte Generalstabschef Ejal Zamir vor einberufenen Reservisten. «Wir dringen bereits in Gebiete vor, die wir noch nie zuvor betreten haben.» Die Kommandeure haben jedoch Medienberichten zufolge Schwierigkeiten dabei, genügend meldewillige Reservisten zu finden.
Das israelische Sicherheitskabinett hatte im August die Einnahme der Stadt Gaza im Norden des von Israel abgeriegelten Küstenstreifens gebilligt. Ein Militärsprecher wandte sich nun auf der Online-Plattform X auf Arabisch an die Bevölkerung der Stadt und erklärte, die Evakuierung sei unvermeidlich. In der Stadt Gaza sollen sich Hunderttausende Menschen aufhalten. Im Süden des Gazastreifens würden Zelte für sie vorbereitet, schrieb der Sprecher. Doch auch dort sind die Lebensbedingungen laut Hilfsorganisationen katastrophal.
Berichte über gesunkene Melderate bei Reservisten
Nach der Einberufung von 60.000 Reservisten für die geplante Offensive gegen die Stadt Gaza im Norden hat die israelische Armee jetzt mit der ersten Mobilisierungswelle begonnen. Inzwischen seien jedoch weniger Reservisten dazu geneigt, sich erneut zum Dienst zu melden, berichtete die «Times of Israel». Die Reservisten sollen in den kommenden Tagen ausgebildet und vorbereitet werden. Einige sollen im Westjordanland und im Norden reguläre Truppen ersetzen. Letztlich plane die Armee, vier Divisionen in die Stadt zu verlegen, berichtete die Zeitung weiter.
Hunderte Reservisten wollen Dienst verweigern
Nach fast zwei Jahren des Kampfes an mehreren Fronten sind viele Reservisten erschöpft und stellen Medienberichten zufolge den Sinn des Krieges infrage. «Ich weiß, dass Sie einen hohen Preis gezahlt haben – bei der Arbeit, im Studium und zu Hause», sagte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in einer Videobotschaft an die regulären Soldaten, Reservisten und ihre Familien. «Jetzt stehen wir vor der entscheidenden Phase. Ich glaube an Euch. Ich vertraue auf Euch und das gesamte Volk Israel steht hinter Euch.»
Umfragen zeigen jedoch, dass eine Mehrheit der Bevölkerung ein Abkommen mit der islamistischen Palästinenserorganisation Hamas will, damit der Krieg beendet wird und die letzten Geiseln in Gaza freikommen. Viele Angehörige der Geiseln werfen Netanjahu vor, den Krieg aus politischen Gründen unnötig zu verlängern. Seine rechtsextremen Koalitionspartner, von denen sein politisches Überleben abhängt, lehnen ein Abkommen für eine Waffenruhe kategorisch ab.
Eine Gruppe von knapp 400 Reservisten kündigte laut Medienberichten an, einer Einberufung nicht Folge zu leisten. «Wir weigern uns, an Netanjahus illegalem Krieg teilzunehmen, und sehen es als patriotische Pflicht an, dies zu verweigern und von unseren Führern Rechenschaft zu verlangen», wurde einer von ihnen zitiert. Die geplante Einnahme der Stadt Gaza gefährde nicht nur das Leben der Soldaten, sondern auch das der Geiseln in der Gewalt der Hamas.
Im Gazastreifen befinden sich nach israelischen Angaben noch 48 Geiseln, von denen 20 am Leben sein sollen.
Auch Armeechef soll erneut vor Offensive gewarnt haben
Die Armee werde die Angriffe intensivieren, «und genau deshalb haben wir Euch einberufen», sagte Generalstabschef Zamir vor Reservisten. Die Hamas werde sich nirgendwo verstecken können. «Wir werden den Krieg nicht beenden, bevor wir diesen Feind besiegt haben», sagte Zamir. Trotz dieser Äußerungen hatte jedoch auch er laut dem israelischen Nachrichtenportal «ynet» zuvor erneut vor einer Einnahme der Stadt Gaza gewarnt und sich für einen Deal zur Freilassung weiterer Geiseln ausgesprochen.
Die Befehlshaber hätten inzwischen Schwierigkeiten, genügend Reservisten für die geplante Einnahme der Stadt Gaza zu mobilisieren, schrieb das «Wall Street Journal». Viele Reservisten erzählten der britischen Zeitung «Guardian», sie stünden aus persönlichen und ideologischen Gründen vor «einer schweren Entscheidung». Nur wenige wollten die Einberufung jedoch ablehnen, hieß es.
«Wir sind bereit, unser Leben zu geben (...), aber die offensichtliche Wahrheit ist, dass wir jetzt grundlos sterben», zitierte das Blatt einen Sanitäter, der kürzlich in Gaza war. Militärisch gebe es nichts mehr zu gewinnen, sagte er der Zeitung. Andererseits scheine es auch keine gute Entscheidung zu sein, den Krieg zu beenden, während die Hamas noch Macht in Gaza ausübe und Geiseln festhalte. Dies seien schwierige Fragen, sagte der Sanitäter der Zeitung.
«Es ist ein langer Krieg, aber wir haben keine Alternative»
In den Tagen nach dem Massaker der Hamas und anderer extremistischer Terroristen am 7. Oktober in Israel, die mehr als 1.200 Menschen getötet und mehr als 250 weitere als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt hatten, meldeten sich viele Reservisten freiwillig zum Kampf. Doch die Anforderungen des Krieges, für den Hunderttausende mobilisiert wurden, sind extrem. Medienberichten zufolge zerbrachen viele Ehen von Reservisten, und auch die wirtschaftlichen Kosten für Israel sind hoch.
«Es ist ein langer Krieg, aber wir haben keine Alternative», zitierte der «Guardian» einen Reserve-Offizier, der demnach bereits 550 Tage Einsatz hinter sich hat. «Ist es ermüdend? Ja. Ist es schmerzhaft? Ja. Aber im Interesse Israels und der Demokratien weltweit können wir nicht einfach mittendrin aufhören», sagte er.
Laut der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde wurden seit Kriegsbeginn mehr als 63.600 Palästinenser getötet. Die unabhängig nicht überprüfbare Zahl unterscheidet nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern. «Wir führen einen hartnäckigen und gerechten Krieg, der seinesgleichen sucht», sagte Israels Regierungschef Netanjahu. «Was in Gaza begann, muss in Gaza enden.»
Von Lars Nicolaysen, dpa
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