Radio
jonathan-velasquez (unsplash)
Radio
In Zeiten von geschlossenen Friseursalons

Hilfe mein Ansatz! Corona und die neue Bodenständigkeit

Meine Verlobte ist eine unglaublich schöne Frau. In meinen Augen, die schönste von allen. Und das trotz Corona. Keine Sorge: Sie ist nicht krank, sie hat kein Corona. Aber sie hat jetzt einen Ansatz.

Seit zwei Wochen trage ich nun auf der Arbeit eine Mütze. Seit zwei Wochen bin ich beim Frisör überfällig. Eigentlich bin ich zu geizig, um mir alle vier oder sechs Wochen die Haare schneiden zu lassen.

Außerdem bin ich ein Mann: Ich warte eben, bis morgens mit Haargel und Spray nichts mehr geht. Bis das Gestrüpp auf meinem Kopf Störche zum Nisten einlädt – um dann panisch bei meinem Frisör anzurufen, um im besten Fall vorgestern einen Termin zu bekommen. Lange Rede, kurzer Sinn: Doofe Idee! Würde ich jetzt den Versuch starten meine Haare zu bändigen: Ich bekäme eine eigene Plakette am Ozonloch, wie der wohlwollende Spender einer Parkbank.

Meine eigentliche Kurzhaarfrisur ist gar nicht mehr so kurz; ein bisschen, wie frisch aus den 70ern portiert. Einem Kollegen ging es ähnlich. Auch er ist ein Mann. Aber er ist pragmatischer als ich. Er hat jetzt wieder eine Frisur.

Ein bekannter Online-Riese eine Haarschneidemaschine weniger. Für den Moment ist er zufrieden.Ich bin es nicht – sehe noch aus wie ein Wilder. Einen Rasierer lasse ich nicht an meine vergangene Frisur.

Aber eine Kollegin scheint sehr glücklich. „Mensch, siehst du heute gut und wach aus!“, hat ihr eben ein anderer Kollege über den Gang zugerufen. „Dabei bin ich doch heute gar nicht geschminkt.“. Recht hat er trotzdem. 

Wie viele Männer hier im Büro lasse auch ich mir aktuell meinen Bart wachsen. Studiobesuche haben wir keine. Außentermine auch nicht. Sieht mich ja keiner.

Im Büro sind wir unter uns, sitzen dort zu dritt, wo normalerweise die sieben- oder achtfache Population herrscht. Man kennt sich, versteht sich. Eine Remission der Eitelkeit stellt sich ein. 

Genauso sind wir auch urplötzlich ehrlich, wenn uns jemand fragt: „Wie geht’s?“. Vorbei sind die Zeiten vom geheuchelten „Gut, danke!“. Wir fressen nichts mehr in uns rein. Wir sagen: „Hey, heute nicht so!“. Und meinen es auch so. 

Es fühlt sich so an, als verließen wir gerade ein Stück weit eine Welt, die wir uns selbst aufgebaut haben; die es aber eigentlich gar nicht gibt. Die Fassade von der wir immer wollten, dass andere uns so wahrnehmen.

Wir verlassen diese Scheinbarkeit und werden gemütlich. Von verkleidet zu ehrlich. Und zu uns selbst. Werden ungewohnt bodenständig. Meine Freundin trägt neuerdings einen Ansatz. Finde ich gar nicht schlimm.

Seit wir uns kennen, lässt sie ihre Haare färben. Ich wollte schon immer mal ihre Naturfarbe sehen. Jetzt kann sie nicht anders. Und irgendwie stört es sie nicht. Stört mich nicht. Viele tragen gerade einen Ansatz. Ich hatte bis vor kurzem eine Frisur. 

„Weißt du noch? Damals? Bei dem Corona? Da wo alle einen Ansatz hatten? Und die Männer einen Struwwelkopf?“
Und irgendwie finde ich das gut!